Die Gegenwart von der Zukunft aus denken

Interview mit Prof. Dr. René Schmidpeter über Transformationen zur Nachhaltigkeit der deutschen Wirtschaft

Prof. Dr. René Schmidpeter ist ein international anerkannter CSR-Stratege, Vordenker und Experte auf seinem Gebiet. Wir haben mit ihm über die Transformation von Corporate (Social) Responsibility in Bezug auf nachhaltige Unternehmensstrategien gesprochen.

Transformation ist in aller Munde. Doch was steht hinter dem Begriff und worin liegt der Unterschied zum Changemanagement?

"Trans" bedeutet "darüber hinaus". Wenn wir also von einer Transformation reden, geht es über das Bestehende hinaus. "Change" beschreibt im Gegensatz hierzu einen Wandel innerhalb bestehender Strukturen, ohne die Perspektive und Herangehensweisen zu ändern. Somit ist die Transformation weitreichender und bringt einen tatsächlichen Paradigmenwechsel mit sich.
 

Aufbauend auf diesem Transformationsverständnis würden wir gerne mehr über die Nachhaltigkeit der deutschen Wirtschaft erfahren. Der Rat für Nachhaltigkeit argumentiert, dass es diesbezüglich großen Aufholbedarf gibt. Wie schätzen Sie die Transformationen diesbezüglich ein?

Nachhaltigkeit ist ein lang diskutiertes Thema in Deutschland. Aber die Interpretation, was Nachhaltigkeit vor allem für die Wirtschaft und dann in weiterer Folge auch für die Politik bedeutet, ändert sich momentan und wird sehr dynamisch. Warum? Weil erstmalig auch die Finanzwelt erkennt, dass nachhaltiges Wirtschaften und Nachhaltigkeit kein Add-on, sondern ein Add-in sind. Das bedeutet, dass Nachhaltigkeit nicht wie die Jahrzehnte davor von einer Nachhaltigkeitsabteilung im Rahmen einer Nachhaltigkeitsstrategie gemanagt wird, sondern dass Nachhaltigkeit in alle unternehmerischen Prozesse, Entscheidungen und Strukturen integriert wird. Kurz zusammengefasst: Es gibt einen Wandel von Nachhaltigkeitsstrategien hin zu nachhaltigen Unternehmensstrategien.
 

Daraus abgeleitet stellt sich die Frage, welche Unternehmensstrategien tatsächlich nachhaltig sind?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir die Gegenwart von der Zukunft aus denken. Bereits heute haben wir immense ökologische, aber auch soziale und wirtschaftliche Herausforderungen, die in der Zukunft eher zunehmen werden. So wird es aufgrund der planetaren Grenzen, der politischen Entscheidungen, Pariser Klimaabkommen und dergleichen notwendig, bis 2040/2050 klimaneutral zu sein. Nachhaltige Strategien müssen die verschiedenen Hindernisse adressieren und dabei die Wirtschaft und den Klimaschutz zusammenbringen. Die Menschen haben es bei der letzten Wahl durchaus erkannt. Indem sie einen Großteil der Stimmen an eine grüne Partei gegeben haben, die sich sehr stark für die ökologischen Fragen einsetzt. Aber auch an eine liberale Partei, die sagt, dass auch die wirtschaftliche, die finanzielle und die ökonomische Nachhaltigkeit unserer Gesellschaft immens wichtig ist, also nicht nur die ökologischen, sozialen, sondern auch die wirtschaftlichen Fragen. Nachhaltige Unternehmensstrategien müssen Nachhaltigkeit neu framen, nicht nur als ein ökologisches, sondern auch als ein soziales und wirtschaftliches Thema. Ausschlaggebend ist der ko-evolutionäre Prozess.
 

Was meinen Sie mit dem ko-evolutionären Prozess?

Wir sehen ja auch nicht zuletzt durch die Corona-Krise, wie komplex und interdependent unsere Welt geworden ist. Im Grunde kann niemand die vor uns liegenden Herausforderungen alleine lösen. Wir brauchen das Zusammenspiel der verschiedenen Stakeholder. Auf der internationalen Ebene betrifft dies die Staaten und Nationen. Lokaler gesehen brauchen wir die Zivilgesellschaft, die Wissenschaft, die Politik, die Wirtschaft, Investoren und Investorinnen und letztendlich jede Person, die bereit ist, dieses neue Mindset von Nachhaltigkeit in tagtäglichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entscheidungen mitzudenken und zu integrieren.

Prof. Dr. René Schmidpeter

 
Kommen wir zurück zur nachhaltigen Unternehmensstrategie: Wie schätzen Sie die Rolle der Digitalisierung zur diesbezüglichen Unternehmenstransformation ein?

Digitalisierung und Nachhaltigkeit sind eng miteinander verbunden: Die Digitalisierung bringt den Handlungsbedarf zum Vorschein und verändert die Art und Weise, wie wir Wirtschaft betreiben, Stichwort Plattformökonomie. Außerdem haben wir ganz neue Möglichkeiten, zum Beispiel Wertschöpfungsketten zu steuern oder Geschäftsmodelle über Big Data und irgendwann künstliche Intelligenz zu entwickeln und dadurch ganz neue Produkte und Dienstleistungen herzustellen. Wir sehen: Die Digitalisierung birgt unglaublich viel Potenzial für neue Lösungsansätze und wird damit natürlich auch zum Enabler der nachhaltigen Entwicklung. Jetzt kommt aber das große "Aber" – denn das gelingt uns nur dann, wenn wir auch die Digitalisierung im Hinblick auf ethisch nachhaltige Leitplanken definieren. Zum Beispiel gibt es auch Blockchain- und Bitcoin-Währungen, die heute schon einen immensen Energieaufwand betreiben, um Daten zu generieren, die eigentlich völlig unnütz sind. Das heißt: Digitalisierung als solches hat auch ihre Risiken und Herausforderungen. Hier müssen wir rechtzeitig unsere Werte und auch unsere ethischen und nachhaltigen Leitplanken einziehen und die Nachhaltigkeitsdiskussion mit in die Digitaldiskussion integrieren.
 

Tauchen wir von dieser theoretischen Überlegung in die Praxis ein: Erfahrungsgemäß tun sich Unternehmen schwer, die nötigen Transformationen umzusetzen. Woran liegt das und was können wir am besten dagegen tun?

Transformation ist sicherlich extrem schwierig, weil sie im Grunde Unsicherheit voraussetzt. Vor einer Transformation gleichen Unternehmen einer Raupe, die nicht weiß, wie es sich anfühlt, ein Schmetterling zu sein. Den Mut zur Veränderung dennoch aufzubringen, ist gerade in einer Kultur wie in Deutschland, die nicht die größte Fehlertoleranz hat und auf Effizienz und Performance ausgerichtet ist, schwierig. Was wir brauchen ist Agilität: Unternehmensstrukturen verändern sich, Fehler dürfen passieren – wir müssen nur daraus lernen. Wichtig ist, dass wir dabei bedenken, dass wir das Mittelmanagement 30 Jahre auf Effizienz, auf verantwortungsvolles Bewahren, auf Correctness, auf "nur keine Fehler machen" hin entwickelt und getrimmt haben und jetzt soll auf einmal alles anders sein, das setzt eine hohe geistige Mobilität voraus. Diese Mobilität und breite Akzeptanz zu schaffen ist für den einzelnen Menschen eine große Herausforderung, und deswegen brauchen wir verantwortungsbewusstes Leadership. Dieses muss alte Strukturen aufbrechen und die Mitarbeitenden motivieren, die Raupe zum Schmetterling zu transformieren.
 

Kann auch Unternehmensengagement und Verantwortung zur Transformation beitragen?

Gerade wenn ich das Kerngeschäft, die Unternehmensstrategie, die Kultur verändern will, sind Themen wie Verantwortung und auch der gesellschaftliche Austausch essenziell. Zunächst können einzelne CSR Formate wie Corporate Volunteering eine wichtige Rolle in der Transformationsbereitschaft spielen – insbesondere in der Führungskräfteentwicklung, da sich Menschen entwickeln, die ein neues Mindset haben, die die Gesellschaft verstehen, die aber auch Wirtschaft verstehen und dann, wenn sie Entscheidungen in der Stab- oder Linienfunktion treffen, ganzheitlich gesellschaftlich und wirtschaftlich verantwortlich agieren. Damit die Formate ihr ganzes Potenzial entfalten und zu nachhaltigen Unternehmensstrategien beitragen, müssen sie richtig im Unternehmen verankert sein. Das bedeutet konkret, dass Nachhaltigkeitsabteilungen das Unternehmen in und auswendig kennen müssen, inklusive der Prozesse, Produkte und Märkte. Ist dies der Fall, können Nachhaltigkeit, CSR- und Engagement-Themen in die Unternehmensstrategie integriert werden. Am Ende des Tages sollte keine Nachhaltigkeitsstrategie mehr vorhanden sein, auch keine CSR- oder Engagement-Strategie, sondern eine nachhaltige Unternehmensstrategie – die alle Punkte integriert.

Das Interview führte Joris-Johann Lenssen, Projektleiter Unternehmensengagement und -verantwortung bei ZiviZ im Stifterverband, am 6. Oktober 2021.